21.1.18

der maximale einsatz

(die sieben todsünden: hochmut)


der  himmel war samtblau wie der mantel eines orientalischen zauberers, sternenbestickt, trügerisch wie eine jahrmarktsbudenillusion, aus glitzerndem samt und silbern gesticktem sternenflor, so trügerisch, so falsch wie der gewinn eines preises in einer schiessbude, dessen talmiglanz bei tag ausbleicht wie eine verblassende erinnerung. 
von ferne her klang der langgezogene signalton eines durchfahrenden zuges, unendlich einsam, er durchdrang die nacht und vergellte wie der schrei eines verwundeten tieres. 


der weisshaarige mann mit dem jungen gesicht sass vor woo yong wahs laden auf dem gehsteig, lehnte den rücken an die hauswand und betrachtete die dinge, die vor ihm auf dem staubigen boden lagen. sechs würfel aus bein, ein messer, ein hammer und einige dicke rostige schusternägel. daneben eine flasche schnaps von der billigen sorte. 2 gläser. 
zufrieden drehte er sich eine zigarette und wartete, während er rauchte. er würde bald kommen. der, auf den er wartete, sass gerade im casino des grand hotel beim roulette und liess sich volllaufen. aber er würde nüchtern genug sein, um mit ihm zu würfeln - er wusste, dass es so sein würde. der mann war ein spieler. er spielte immer, egal ob im casino, in hinterzimmern oder mit einem fremden auf der strasse vor dem laden eines chinesen. er, der spieler, war mondain und hatte die geschliffenen umgangsformen eines mannes von welt. bis er bekommen hatte, was er wollte. danach kam sein wirkliches gesicht zum vorschein, gelangweilt, überdrüssig, ein tier kurz vorm verrecken. er spielte neuerdings um wirklich hohen einsatz, hörte man. und trotzdem war es ihm zu wenig. er wartete ebenso wie der mann, der auf der strasse sass, auf das eine spiel, das spiel der meister. 

der mann auf dem gehsteig betrachtete noch einmal die utensilien, die vor ihm lagen. nicht gerade nobel. aber darum ging es diesmal nicht. einige würfel im staub, mehr war nicht nötig, um zu spielen. er schraubte die schnapsflasche auf und füllte beide gläser eben voll bis zum rand. es konnte nicht mehr lang dauern. das casino im grand hotel musste in den nächsten minuten schliessen und sie würden herauskommen, die meisten wie müde, getretene hunde, doch er, der spieler, wie immer als gelangweilter gewinner, von allen beneidet, doch im grunde müder als die verlierer. müde bis an seine seele. 
er würde am nachhauseweg genau an woo yong wahs laden vorbeikommen, vor dem er sass und ihn erwartete, mit 2 gläsern schnaps und einem würfelspiel aus bein. 
es konnte so einfach sein. er lachte lautlos in sich hinein und fuhr vorsichtig mit den fingern über den hammer, der vor ihm lag. das spiel des jahrhunderts, und alles stimmte, sogar die farbe des himmels, die ihn immer zu aussergewöhnlichen taten inspirierte. ein himmel wie gemacht für liebespaare oder zwei spieler, die einander nicht aus den augen lassen, fast schon wie ein liebespaar. er kicherte und drehte sich noch eine zigarette. 

endlich war es so weit. das klappern von türen, dann stimmen auf dem parkplatz vor dem grand hotel, verstärkt durch die leere strasse wie durch den trichter eines grammophons. schritte, die sich in alle richtungen entfernten, einige grussworte und flüche, dann stille. er lauschte angestrengt, unterschied die stimmen, das geräusch ihrer schritte. der spieler musste hier vorbeikommen - es sei denn, er führte sich noch ein flittchen zu gemüte. er lachte kurz auf. aber er glaubte nicht daran. jemand, der vom schlachtfeld kommt wie ein einsamer wolf würde anders handeln. er würde einsam trinken und dem mond seinen tribut verrichten, ein einsamer jäger, der ohne die klettenhafte umklammerung eines billigen weibsstücks auskam. stolz wie ein kaiser und müde wie ein bettler. 
er runzelte die stirn und lauschte angestrengt in die nacht. 
schwere schritte, die sich ihm näherten und gleich darauf um die ecke bogen. er setzte sich aufrecht hin und sah dem spieler entgegen. 

er, der spieler, sah einen weisshaarigen mann mit unbewegtem gesicht, der ihn starr anblickte und ihm zur begrüssung leicht zulächelte. einen mann, der vor dem laden eines chinesen auf dem boden sass und selbst beinahe asiatisch wirkte, so unbewegt freundlich war seine miene. er war betrunken, doch wie durch einen schleier konnte er die dinge sehen, die vor dem mann auf dem boden lagen. er verstand ihre bedeutung nicht und schüttelte seinen kopf wie einer, der gerade eine vision vertreiben wollte. der mann nickte ihm zu und deutete auf etwas, das auf dem boden lag und wie ein würfelspiel aussah. der spieler begann betrunken zu lachen. aber trotz seiner momentanen verfassung, die sein bewusstsein trübte, fühlte er, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. auf seinem rücken wuchs eine gänsehaut, als er den mann am boden ansah. 


der mann sah dem spieler emotionslos entgegen und fühlte seine schwäche wie das zittern eines opfertiers. bald würde schmerz dazukommen, immenser schmerz. er neigte den kopf vor ihm zur begrüssung und bedeutete ihm mit einer handbewegung, ihm gegenüber auf dem gehsteig platz zu nehmen. 
"sie sind einem kleinen spielchen sicher nicht abgeneigt? ein spiel mit würfeln - vielleicht zu primitiv für sie? aber vielleicht interessiert sie ja der einsatz." 
der spieler kam näher heran und betrachtete das würfelspiel und den mann, der ihm mit desinteressierter freundlichkeit entgegensah. 
"geld? sie können nicht mithalten", meinte er und wollte weitergehen, doch der blick des mannes bannte ihn wie ein hypnotisiertes kaninchen auf dem fleck. er sah etwas in den augen, das er instinktiv fürchtete, doch es war ein eigenartig angenehmes gefühl. gefahr. er fühlte zum ersten mal seit jahren, dass er angst hatte. so grosse angst, dass er am liebsten um hilfe gebrüllt hätte, und doch tat er es nicht. es war pervers - er hatte spass daran, an dieser situation, mitten in der nacht vor dem laden eines alten chinesen. 

"wie hoch ist der einsatz?", fragte er und er wusste es nicht, aber er hing schon rettungslos an der angel seines gegenübers. 
der lächelte und meinte leichthin, als würde er etwas völlig belangloses sagen: "wer verliert, wird bluten. erst wenig, dann mit fortschreitendem spiel immer mehr. wir spielen so lange, bis der gegner entweder um gnade bettelt oder tot ist. was für ihn ohnehin das beste wäre. was meinen sie? ein spiel nach dem geschmack eines mannes von ihrem format?" 
jetzt troff seine stimme vor hohn. 
"wer sind sie?" die stimme des spielers zitterte, wie ein gereiztes tier stand er vor dem mann, der ruhig am boden sass und sich eine neue zigarette drehte. 
"sind sie völlig pervers?" 
"das könnte man so sagen, ja. und die beste perversion, die ich mir ab und zu gönne, ist ein spiel mit maximalem einsatz. sie sehen ja, dass ich noch lebe. auch ich bin ein spieler. vielleicht können sie mich ja besiegen, es wäre mir ein unerwartetes vergnügen, denn auch ich langweile mich, genauso wie sie. sie haben eine faire chance." 
"eine faire chance, ja." murmelte der spieler und liess sich schwerfällig auf dem gehsteig nieder. "und wenn ich gewinne, werde ich sie - wie sie sagen - bluten lassen." 
"sollten sie gewinnen, dürfen sie mich so lange quälen, bis ich um gnade bettle. dann müssen sie aufhören. aber ich werde es nicht tun. sie etwa?" 
der spieler setzte sein bestes pokerface auf und meinte grosspurig: 
"ich winsle nicht um gnade. nie." 
"sie haben noch nie den maximalen einsatz probiert. sie würden winseln wie ein hund." 
"es geht also um leben und tod." 
"wenn der verlierer es so will, ja." 
"wir sollten woanders spielen. man wird uns bemerken und.." 
"hier kommt garantiert keiner auf die strasse, das kann ich ihnen versichern. schon gar nicht woo yong wah und seine familie. wissen sie, hier lebt ein seltsamer menschenschlag. alles menschen, die sie nicht kennen oder kennen wollen. was in der nacht draussen passiert, das soll passieren. man mischt sich prinzipiell nicht ein. sie können sich also nicht darauf verlassen, dass ihnen jemand zu hilfe kommt." 


"lassen sie uns spielen." 
er hatte ihn soweit. natürlich. 
"wir unterschreiben unseren pakt nicht mit blut - blut wird ohnehin reichlich fliessen - sondern wir trinken darauf." er reichte dem spieler ein glas schnaps. 
"primitiv wie alles, ich weiss. aber es geht nur um den einsatz und der ist weiss gott nicht primitiv". jetzt kicherte er und prostete seinem gegner zu. 
"auf den schmerz. wohl bekomm's". 
er kippte sein glas auf ex und grimassierte, dann kicherte er wieder. 
"sie sind der teufel, oder?" was redete er da? so gar nicht er, aber es fühlte sich grandios an, dieses gefühl der vorfreude, auf.... 
 
am nächsten morgen war woo yong wah zeitig aufgestanden und schrubbte mit unbewegtem gesicht das blut vom gehsteig und von den wänden, das hochmütige blut des verlierers. 
"ein gutes spiel, das spiel des meisters", murmelte er, "und so lange hat es gedauert. 
viel zu stolz, um aufzuhören." 
"messer hammer nägel", summte er monoton wie ein mantra und betrachtete die blutverschmierten fenster und wände seines ladens. 
ein plötzliches lächeln hob seine mundwinkel. 
er konnte trotz gellender schreie recht gut schlafen. 
 

in einer anderen stadt, nicht weit von hier: ein mann sitzt auf dem gehsteig und dreht sich gerade eine zigarette. vor ihm auf dem boden verstreut liegt eine vielzahl sonderbarer dinge. der himmel ist orientalisch blau wie der samtene umhang eines jahrmarktsbudenzauberers. 
in weiter ferne zerreisst der signalton eines vorüberfahrenden zuges die nächtliche stille. 
er klingt wie der schrei eines gequälten tieres. 
 
 
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