6.3.12

sie sahen nur das wesen, das extra für sie die gestalt einer wunderschönen jungen frau angenommen hatte...

ein märchen für kelet

es war einmal vor langer zeit ein wesen, und dieses wesen lebte in einer welt, die den meisten menschen sehr fremd war. es war eine geheimnisvolle welt voll dunkler schönheit. es war seine heimat, das land, das es liebte.

als einmal menschen kamen, sahen sie nur die schönheit des landes. die gefahren sahen sie jedoch nicht und sie wiegten sich in sicherheit. sie betraten das fremde land vorschnell und glaubten, es in besitz nehmen zu können, und das wesen - wie seltsam das war - stand in seiner kaverne aus knochen und kaltem marmorstein und lächelte ihnen schon entgegen. das lächeln selbst war warnung genug, doch die fremden wollten nicht auf ihre herzen hören. sie sahen nur das wesen, das extra für sie die gestalt einer wunderschönen jungen frau angenommen hatte. und sie waren hingerissen von ihrer anmutigen fragilen gestalt. was dahinter lag, konnten sie nicht sehen. sie hätten schreiend das weite gesucht, hätten sie das bleckende grinsen einer kreatur der reinen schwärze gesehen, doch wie hypnotisiert sahen sie weiterhin das mädchen an, das ihnen entgegenkam und zur begrüssung, so sanft wie eine blume, ihr köpfchen neigte.

einer nach dem anderen verfiel ihrer anmutigen erscheinung. sie sollte für immer ihnen gehören. anscheinend hatte die liebliche kreatur nichts dagegen, denn ihr lächeln blieb unverändert. als der abend kam, ketteten sie sie an die wand der kaverne, damit sie nicht mehr fortlaufen konnte. seltsam nur, dass sie nicht einmal den versuch unternommen hatte, zu fliehen. im gegenteil, sie schien zufrieden mit ihrem schicksal zu sein, summte vor sich hin und redete manchmal mit ihnen, mit einer hohen, süssen stimme, die etwas künstlich klang, aber das fiel nicht weiter auf. was für eine beute, dachten die fremden und legten sich ruhig schlafen. das wesen lauschte ihren atemzügen und als es sicher war, dass alle tief und fest schliefen, schlüpfte es mühelos aus den fesseln. seine eigentliche gestalt verschmolz mit der dunkelheit der nacht, doch sein schwarzes fell sprühte funken, als es lautlos zu den lagern der fremden schlich. es kauerte noch eine zeitlang vor ihnen und betrachtete ihre groben gesichter, denen nicht einmal der schlaf eine spur schönheit verlieh. dann beugte es sich über die schläfer.

mondlicht beleuchtete die blutbespritzten wände der kaverne, und mondlicht beleuchtete auch das gesicht des wesens, das wieder in gestalt des mädchens im kreis der toten leiber sass, vornübergebeugt, als würde es trauern. die langen schwarzen haare verdeckten sein gesicht, seine schultern zuckten, als würde es weinen. doch als es zum bleichen mond aufsah, wurde ersichtlich, dass ein entsetzliches lachen den schlanken körper schüttelte und im nächsten augenblick einem starren, maskenhaften lächeln wich, das von puppenhaftem liebreiz war.


ich hab es schon einmal gesagt und ich werde es immer wieder sagen: kelet, ich bin dankbar, dich zu kennen. das hier ist dein märchen.