11.4.16

shine


wie oft er daran vorübergegangen war, konnte er nicht mehr zählen. zu oft. und jedesmal hatte er sehnsucht in sich getragen, die zu stark war. die ihn fast auffrass. schlimmer als heimweh, grausamer als trauer. das gefühl, endgültig verloren zu haben. und jedesmal, wenn sein verstand die gefühle zu beherrschen begann, kroch dieser unglaubliche zynismus in seine gedanken und dann war es wieder soweit - er würde wieder mal nach hause gehen und eine unruhige nacht haben, schlecht schlafen ... er ging jetzt sehr früh schlafen, denn welchen sinn hätte es noch, die nacht bewusst zu erleben? er wanderte nicht mehr gern durch die strassen und suchte nicht mehr nach nach wundern und poeten, nach schatzkarten und wegweisern, er sah auch nicht mehr träumend aus dem fenster, ein glas wein vor sich und den notizblock auf dem tisch, der irgendwann im lauf der nacht mit gedanken und gedichten gefüllt wurde. er sah eigentlich gar nichts mehr richtig an. und die träume von früher waren relikte wie aus museen. sie waren wunderschön, aber was hatten sie noch mit ihm zu tun? im prinzip gar nichts.


heute jedoch schien es ein wenig anders zu laufen als sonst. er war rein zufällig in der gegend gewesen und hatte seine schritte gedankenlos dorthin gelenkt, wo er vor langer zeit einmal daheim gewesen war. und er stand da, starrte in die dunkelheit und versuchte, sich zu erinnern. drängte zynismus und schlechte gedanken zurück. samtige dunkelheit, von weit weg leises reden und lachen, gläserklirren. menschen, die auf einer dachterrasse den sommerabend verbrachten, zusammen tranken, feierten. die den mond betrachteten, die sterne, die sich verliebten, in die anderen um sich und wohl auch in sich selbst, menschen, die ihm plötzlich vertraut waren. er verstand gut, wie sie sich fühlten. er vermisste sein früheres leben zu sehr, das wurde ihm klar. er hatte nicht mehr die möglichkeit, sich irgendein arschlochverhalten überzuwerfen wie ein hässliches kleidungsstück, eine art stealth-mantel, der ihn und sein wesen verbarg, vor allem vor sich selbst. er fühlte sich ganz. geborgen in der nacht, seinen gedanken nicht mehr ausgeliefert, sondern seine gefühle erlebend und zum ersten mal seit einiger zeit vom herzen her lächelnd. während das leise reden und lachen, die geräusche einer warmen, weichen sommernacht ihn wegtrugen. wie von selbst betrat er die dunkle gasse und dort war es, das alte, grosse haus mit der wunderschönen fassade, das er die ganze zeit vermisst hatte.


er betrachtete das schild über dem eingang, schüttelte lächelnd den kopf. so lange her. egal. so egal, das glaubt man kaum. egaler als egal. er setzte sich in den dunklen eingangsbereich und lehnte sich mit dem rücken an die tür. zündete sich eine zigarette an, die erste seit einer kleinen ewigkeit, zog seinen notizblock aus dem rucksack und begann, seine gedanken aufzuschreiben, während er genüsslich rauchte...