13.2.19

Euro Night


Die einsamen Reisenden in dem Zug, der durch eine Winternacht fuhr, sassen still auf ihren Plätzen. Keiner sprach ein Wort, ja, es wirkte, als wäre ihnen die Sprache abhanden gekommen.
Wie steinerne Statuen sassen sie da, den Blick nach innen gerichtet und liessen ihre Gedanken in die eiskalte Nacht strömen.
Das Schattenwesen hatte sich in seinem Sitz verkrochen.
Wie immer sass es ganz hinten, gleich bei der Tür, hinter ihm nur noch die Wand des Abteils. Es dachte über die Stille nach. Amüsiert lehnte es sich zurück und dachte, wie intelligent Menschen plötzlich wirkten, jetzt, da ihnen die Sprache abhanden gekommen war.
Jetzt hörte das Wesen, dessen Heimat Schatten und Nacht waren, den Menschen zu, denn es hatte längst schon begriffen, dass es sinnlos war, dem gesprochenen Wort zu lauschen.

Die Schatten der Nacht erlauben keine lauten Töne. „Alles Laute tötet uns“, sprach es unhörbar in die Stille, „es verletzt uns, reisst tiefe Wunden in unsere Seelen, treibt uns in den Wahnsinn.“
„Die Stille ist unsere Welt.  Ihr jedoch fürchtet sie, denn in der Stille hört ihr, wie die Sekunden eures Lebens verstreichen, hört den feinen Sand durch das Glas der Sanduhr rieseln.
In der Stille findet ihr euren Tod.“
„Doch bedenkt, dass er immer neben euch steht, egal, was ihr tut, um euch abzulenken (um das Leben, wie ihr meint, zu spüren).“
„Nehmt ihn auf in eure Herzen“,
sprach das Wesen weiter, „seid eins mit ihm, verdrängt ihn nicht aus euren Seelen, die nach ihm verlangen.“
Das Schattenwesen, das sich ganz hinten im Abteil verkrochen hatte, fühlte sich plötzlich als Mittelpunkt einer schweigenden Versammlung, als Zentrum eines Kreises von stillen Statuen.


Und die Gedanken der Reisenden strömten weiter wie ein warmer Fluss in die Eiseskälte der Nacht.
Ruhig sassen sie da und der Tod war mitten unter ihnen.

-Gedanken im EuroNight,
in der Nacht des 24.3.1998,
einer wahren Winternacht-



Nachtrag: „Der Tod steht euch gut“, grinste das Schattenwesen. „So seht ihr gleich viel eleganter aus!“