29.6.19

töten alle lust

logbuch | dienstag, 13. november 2001


es gibt einen platz da draussen, wo wir hingehören. manchmal denke ich, ich weiss genau, wo der ist, aber dann verschwindet er wieder aus meinen gedanken, wahrscheinlich dann, wenn die welt zu laut und aufdringlich wird. wenn die welt nur aus lauten tönen besteht und aus reissenden schmerzen, die wie ein roter schleier durch meine gedanken gleiten, dann ist dieser platz nicht mehr fühlbar, er wird schon noch da sein, irgendwo ganz hinten in meinem kopf, verdrängt von einer vielzahl von verwirrenden einflüssen.


dieser ort ist zu still, um die laute welt zu übertönen. das hat er auch nicht nötig. denn immer, wenn die nacht hereinbricht, wenn die abenddämmerung kommt und der himmel langsam von grau überlagert wird, bis alle farben sanft erloschen sind, ist er plötzlich da, der ort, wo ich hingehen muss, weil ich keine andere wahl habe, wohl auch, weil ich nie eine andere wahl wollte. im grauen himmel der abenddämmerung steht ein wort, hingehaucht, in den farben von regen und asche, es lautet ‚remember‘. und dann wird es still. wenn die dunkelheit das leben zudeckt, das leben auszulöschen scheint, dann erwachen die anderen. es gibt einige, die sich an belebten, lauten orten treffen, um die nacht zum tag werden zu lassen, sie brauchen licht und lampen...viel künstliches licht, damit die dunkelheit in ihre schranken gewiesen wird. damit der mensch sich immer noch sagen kann, er könne sich überall gefahrlos aufhalten. die vielen lichter in der nacht haben jedoch keinen einfluss auf die tatsächlichen vorgänge, die regelmässig ablaufen und von den eingriffen der menschen nichts ahnen. manchmal muss ich lachen, wenn ich daran denke. so wie heute, wo mich dieser gedanke zwar nicht zum lachen, sondern eher zum lächeln bringt. ich denke mir, dass wir etwas daraus lernen könnten...ist es nicht so, dass man erst das glück gefunden hat, wenn man von den menschlichen tätigkeiten nichts ahnt? das glück der engel...von diesen eingriffen in die wahre natur der welt, die so primitiv und brutal sind, dass man von zerstörung und vernichtung sprechen könnte, nichts ahnen zu müssen...der mensch ist es gewöhnt, zu vernichten. alles, was menschen tun, was sie immer getan haben und immer tun werden, ist es, zu vernichten. erst die distanz zu ihnen lässt uns (über)leben. manche schaffen es nicht. man kann sehen, wie sie enden...vielleicht waren sie immer schon taub und blind für die tatsächlichen vorgänge hinter dem dünnen schleier, wahrscheinlich haben sie das gebrüll der menschheit viel zu ernst genommen. ich jedenfalls weiss, dass es sich wie das gebrüll von wilden tieren anhört und ich beginne, in die stille zu lauschen, um etwas zu hören, das beinah unhörbar ist. man muss sehr gut hinhören, um es wahrzunehmen. man möchte sich verändern, sich der umgebung anpassen, eine form der evolution durchlaufen. diese art der mutation scheint auch zu funktionieren.


die sinnesorgane entwickeln sich weiter. manchmal erträumt man sich flügel. sie wachsen in der abenddämmerung und man behält sie solange, wie die dunkle welt existiert. das sonnenlicht des morgens, das mir ekel einjagt und mich beinahe zum kotzen bringt, lässt mich gnadenlos abstürzen. es ist grausam, dieses licht und die wimmelnden, tobenden menschen jeden tag erneut erleben zu müssen, aber ich glaube, es führt zu nichts, wenn ich mich nun selbst betrauern würde. ich fliege eben mit unterbrechungen – und man kann ja auch einen beträchtlichen teil des tages verschlafen (ich zumindest, da es meine arbeit zulässt). natürlich würde ich am liebsten den ganzen tag verschlafen – ich träume jedenfalls oft davon. man müsste schwarze vorhänge haben – und schalldichte fenster...kein laut soll hereindringen. alles soll dunkel und still sein. vielleicht brennt ein winziges öllicht an der wand oder ein kleines, rotes grablicht und verbreitet diesen sakralen, beinahe schon ordinären geruch, den ich so liebe. dieser geruch ist sex pur. vielleicht halte ich mich deswegen auch noch manchmal in kirchen auf – vielleicht brauche ja auch ich noch eine art der sexualität... kirchen stinken. sie stinken ordinär wie sakrale bordelle, die uns manchmal durchaus zum verweilen einladen...kirchen und leichenhäuser, wobei ich mich bei letzteren jedoch zurückhalte. ich weiss, was sich gehört. und niemand soll von mir behaupten dürfen, ich sei nekrophil....ich interessiere mich für diese bizarre deformierung des menschlichen sexualverhaltens, das gebe ich schon zu. kranke, sieche perversionen empfinde ich als unterhaltsam, ich neige jedoch dazu, mich eher distanziert zu verhalten. der wurm, der das innere dieser bedauernswerten kreaturen zerfrisst, soll niemanden von uns befallen. trotz der beschäftigung mit dem übel sollte man extremen wert auf gesundheit in jeder form legen, körperliche wie geistige. dennoch ist es unangebracht, sich zurückzuhalten...man kann durchaus im dreck wühlen, solange man selbst nicht schmutzig wird.


ich musste gerade an dieses interview denken, das ich online in irgendeinem der vielen goth zines gelesen habe. anscheinend war diese geschichte die vorlage zum film ‚kissed‘, einem meiner lieblingsfilme, vielleicht sogar mein liebster, bis auf weiteres. die frau, die ihre geschichte zum besten gab, ist dermassen krank und widerwärtig, so degeneriert, dass man durchaus einen leichten anflug von ekel verspüren kann (was dann und wann ebenfalls ein feines erlebnis ist). ich frage mich, wo die frau mal landet. natürlich im gefängnis, wenn sie so weitermacht, oder im irrenhaus...aber das meinte ich eigentlich nicht damit. was geschieht mit solchen kreaturen, wenn sie selbst sterben? natürlich finde ich dieses jetzt immens witzig. ‚wie du mir, so ich dir‘, heisst es ja, oder ‚was du anderen antust, das wird auch dir geschehen‘ (oder so ähnlich). dann wäre die logische konsequenz ihres bizarren treibens natürlich, dass sie selbst nach ihrem tod von irgendeiner kranken kreatur vergewaltigt wird, oder ‚geliebt‘, wie sie es voller gefühl und herzeleid zum besten gab. sie liebt die toten. bis der geruch unerträglich wird. irgendwo habe ich gelesen, dass es leute gibt, die die toten mit nach hause nehmen und waschen, sie ankleiden und mit ihnen reden, ja, sogar mit ihnen flirten. das ist sogar für mich etwas zuviel...wenn ich mir vorstelle, dass dieses ungleiche pärchen zusammen am tisch bei kerzenlicht sitzt...sie isst, er sieht zu... ich finde es langweilig, wenn nur ich rede. auch das ist ein guter grund dafür, nicht nekrophil zu werden. ich höre gerade die stimme meines gewissens: ‚mach dich nie über geisteskrankheiten lustig‘...ooch. das mache ich aber schon die ganze zeit. zumindest, seit ich über die menschheit nachdenke. ich überlege gerade, was ‚gewissen‘ überhaupt sein soll. wie ist ‚gewissen‘ eigentlich beschaffen? das sind doch all jene inhalte, die uns unsere erzeuger sowie die anderen ‚erziehungsberechtigten‘ geradezu eingeprügelt haben. eine angelernte sammlung von possierlichen verhaltensmustern, die der perfekten anpassung an die menschheit dienen, die uns helfen, nicht zu bestien zu verkommen, die sich eventuell über geisteskrankheiten lustig machen, anstatt mitleid zu heucheln und den armen kreaturen unverzüglich helfen zu wollen. ich gebe ehrlich zu, dass ich nicht im traum daran gedacht habe, der nekrophilen frau aus dem interview zu helfen. so, wie sie es gerne hätte, dass man ihr hilft, kann man es ohnehin nicht tun...das würde bedeuten, den pfad der legalität zu verlassen und ihr beim leichenraub zu helfen....oder zumindest schmiere zu stehen (was für ein genialer ausdruck!), wenn sie gerade beim geliebten einsteigt. ich frage mich, ob sie es mit sezierten kadavern auch treibt. vielleicht gerade dann – ich habe das interview gelesen...sie ist wirklich krank.


in der goth-szene, zumindest in der amerikanischen, galt es vor einiger zeit als chick, sich mit nekrophilie auseinanderzusetzen. wahrscheinlich hat ‚kissed‘ den ‚hype‘ ausgelöst – man stelle sich vor: den ‚nekrophilie-hype‘...ich kann nur von mir sagen, dass der film schon ziemlich überzeugend war. er transportiert dieses gewisse versonnene gefühl, ein verwaschenes, traumähnliches gefühl, das einen extremen gegensatz zum eigentlichen, knallharten thema darstellt... ein traumwandlerischer gang durch lichterfüllte tage, ohne die schattenseiten wirklich zu zeigen, ein sonderbar märchenhaft leichter film. vielleicht war es diese form von geisteskrankheit, die die sich gerade in diesen szenen offenbarte? vielleicht hat die frau genau das gespürt...oder gesehen, wer weiss. die wirklichen schattenseiten kamen erst in dem interview zu tage, als sie beschrieb, dass sie sehr wohl wüsste, dass die leute sie schon beobachten würden, aber dass ihr trieb schon zu stark wäre, um sich dagegen zu wehren. sie wusste, dass es probleme geben könnte und sie hatte natürlich auch angst, verhaftet zu werden und in irgendeine anstalt zu kommen. und trotzdem musste sie diesem trieb nachgeben. ich glaube, ich würde mich nur noch hassen. ich hasse es, die selbstkontrolle zu verlieren und einer primitiven, archaischen regung nachzugeben. sex ist eben archaisch und ich will es nicht mehr sein, versuche mein bestes...auch eine art der perversion. ‚töten alle lust‘. ist das jetzt eine band oder der titel einer cd?


‚töten alle lust‘ ist erotisch. warum auch immer. alles, was ich erotisch finde, steht in diesem satz. ich finde mich in diesem satz. warum ich mich dann mit den abseitigen, dunklen seiten der menschlichen seele/sexualität beschäftige? vielleicht aus abenteuerlust, vielleicht brauche ich diesen kick, immer wieder verbotene, gefährliche dinge auszugraben und mich an ihnen zu delektieren wie an einem alten, verdorbenen wein. doch wer könnte von diesem wein lange trinken, ohne dass er ihm auf den magen schlagen würde? ich gestatte mir die kleine perversion, mich an gift zu delektieren, an kleinsten portionen nur...ist es nicht so, dass man immer eine kleinste dosis gift zu sich nehmen soll, damit man am ende gegen dieses gift wirklich immun ist? ‚töten alle lust‘ scheint das resultat davon zu sein.



uralter gruftitext aus meiner extremsten zeit
manches (sicher nicht alles) gilt aber immer noch,
vor allem der teil über die stille


nachtrag: ich habe sehr viel später gelernt, dass man das, was ich bin, als "ace" oder "neutrois" bezeichnet und genau dieser text stammt aus einer zeit, in der ich noch nichts darüber wusste, nur fühlte und sozusagen blind durch ein labyrinth laufen musste. es hat mir nicht geschadet, aber lustig ist was anderes.