7.1.19

remember

gerade hatte sie sich durch einen stapel alter fotos und partyflyer durchgewühlt. ein katalog von joe inferno lag offen auf dem tisch, sie blätterte darin und befand alles, was sie sah, als noch immer tragbar. es war ein stil, den man immer tragen konnte, schon undergroundig, aber irgendwie zeitlos. schwarz, natürlich. absolut schwarz.

die klamotten mit kensingtonmarket-einschlag überblätterte sie, bis sie zu den wirklich guten modellen kam. ein anzug, über den ein kurzes cape drapiert war, oder war das cape ein teil der jacke? - wahrscheinlich. extrem gut genäht, dachte sie, und dieser designerlook, ohne wirklich aufdringlich stylish zu sein. ein kleid fesselte seine aufmerksamkeit - das einzige kleid, das nicht ganz schwarz war. cremefarben und bodenlang, besetzt mit schwarzer spitze an den ärmeln und an der front, und eine unglaubliche gothicfrau als model. atemberaubend, beides.

schockierend klar, der stil, die aussage. das gesicht der frau war ebenfalls ein statement, ebenso der ausdruck in ihren augen. sie sah glücklich aus in ihrem anderssein, zufrieden. ihre augen strahlten und alles an ihr reflektierte das selbstbewusstsein eines menschen, der sich selbst gefunden hatte. ihr schwarzhaariger partner hatte die aura eines jungen bohemien, fast ein wenig filmvampir, schon fast zu schön mit seiner blassen haut und den rabenschwarzen haaren, dem sinnlichen delphinmund, der immer ein wenig zu lächeln schien.


shine blätterte weiter in ihren erinnerungen, von party zu party, von location zu location, von stadt zu stadt. "ballroom esterhofen", viele flyer, ganz viele.  "in stahlgewittern", "stormclouds over europe", "pagan cult".
auf dem ganzen tisch verteilten sich inzwischen die flyer, fotos und kataloge und sie sah fast erstaunt zu, wie sich alles in ihrem inneren wieder an seinen platz rückte.

es schneite damals, dachte sie und ich hatte nicht allzuviel an und trotzdem war ich draussen und sah zu wie die schneeflocken fielen, ich stand in der tür, hinter mir ging etwas hartes, industrialmässiges ab und ich stand draussen und hatte tränen in den augen. warum? sie seufzte tief. ich holte mir damals eine erkältung im schnee und als ich nachher in meinem bett lag, konnte ich vor sehnsucht lange nicht einschlafen.

hinter ihren geschlossenen augen sah sie sie auf der tanzfläche, zu schön, um wahr zu sein, und sie sah sich wieder und wieder aufstehen, über die tanzfläche gehen, in richtung tür, am türrahmen lehnen und zum himmel sehen. sie sah noch einmal die schneeflocken tanzen. ihr war schwindlig gewesen, wahrscheinlich hatte sie zuviel getrunken, sie wusste es nicht mehr. aber sie konnte sich daran erinnern, dass sie es fast nicht ertragen hatte, wie sie aus dem dunklen himmel gefallen waren, es war fast psychedelisch gewesen. die flocken waren aus dichtester dunkelheit gekommen, und wenn man nach oben sah, war es so wie in einer glaskugel mit verzerrtem innenleben gewesen. wunderschön, aber fremd. irgendwer schüttelte die schneekugel, in deren innerem sie stand und sie hielt sich am türrahmen an, damit sie nicht fortgerissen wurde.

sie wusste nicht mehr, warum sie damals so traurig gewesen war, aber sie war oft traurig, ganz plötzlich
manchmal weint der tod mitten in unserer seele
dann sollte man sich seiner tränen nicht schämen
die schneeflocken tanzten noch in ihrer erinnerung.
sie sass am küchentisch und fühlte sich fragil und verletzlich
wie damals


o gott ich könnte eingesperrt sein in einer nussschale
und mich für einen könig von unermesslichem gebiete halten
wenn nur meine bösen träume nicht wären