20.2.19

prager gedanken


ein teil meines familienerbes ist die trauer. sie befindet sich in meiner erinnerung. eine art von ahnung, dass ich genau weiss, was sich hinter den dunklen hausmauern des alten prag abgespielt hat und sich teilweise immer noch abspielt. die trauer ist meine lebensenergie.
man kann das zentrum der trauer eingrenzen, beinahe lokalisieren. es sind die länder im zentrum von europa, länder, die aus weihrauch, dunkelheit und geheimnissen bestehen. die prager schwermut ist ein teil meines erbes. wahrscheinlich könnte ich auch in budapest darauf treffen. die prager judenstadt ersteht aufs neue in mir, als würden die verschwundenen häuser wie nebel in der luft schweben. vielleicht tun sie das auch. das zentrum von prag schnürt so vielen die luft ab, doch ich kann wieder atmen, in der alten, schweren luft...alte, schwere luft, die nach uraltem holz riecht. zeichen, die in der luft stehen, symbole, wie in die schwere luft gemalt. ich habe sie nie zuvor gesehen, aber ich erkenne sie. ich kenne ihre bedeutung. das lachen wird in prag wiederkommen, wenn ich die symbole sehen kann.

schweres gold der kerzenständer, schimmernd im halbdunkel, verfallene, schiefe grabsteine mit verblichenen inschriften, löwen als wächter der ewigkeit. weihrauchnebel. schwindel im kopf, so viel schwindel, aber ein grosses lachen in mir. engste gassen, so eng wie sonst nirgendwo auf der ganzen welt. windschief, alles. so windschief wie ich. begradigt ist nichts, alles webt und baut. die häuser scheinen sich selbst zu bauen und sich dabei aufs herrlichste zu amüsieren. in der nacht vielleicht ein bisschen mehr, am tag ein bisschen weniger. die häuser bewohnen sich selbst, atmen in die gassen hinaus, stossen einen strom von erinnerungen aus, sorgen selbst für ihre unauslöschbarkeit. sie sind alle noch da. manche können sie sehen. als nebel, als rauch, als kerzenschein. sie haben dafür gesorgt, dass das funktioniert. prager häuser sind klug.

wie schwarzer, dichter rauch, der aus einem gefäss aus eisen quillt, ist meine trauer. schmiedeeisen, schwärzer als alle metalle. ein symbol formt sich darin, doch ich kann es noch nicht genau sehen. es steht im zentrum des rauches. wenn ich näher herangehe, kann ich es wahrscheinlich sehen...
ein grosser geist schwebt über der stadt. er erstreckt sich über die ganze stadt und füllt sie aus bis zur letzten nische. ein bilderbogen an erinnerungen und mit kinderhänden blättere ich darin. und mit kleinsten kinderhänden baue ich langsam das puzzle zusammen, das ich bin. kein teil des puzzles ist maschinell gefertigt worden..die meisten teile sind krumm, verbogen, schief und sie passen genau in meine kinderhände. und das kind, das ich bin und bleibe, kann sich nicht sattsehen an der vielfalt der teile, an den farben und seltsamen formen, an den symbolen und gefühlen.

warum immer die judenstadt? warum bin ich ein judenkind, obwohl meine eltern keine juden sind? ich weiss genau, dass ich jüdisch bin,  manchmal tut es weh..sehr. trotzdem...ich möchte es nicht anders haben. meine wahrnehmung unterscheidet sich so sehr von den anderen, dass wir keine gemeinsamkeiten mehr haben, dass mich keiner mehr versteht, aber trotzdem...das, was ich fühle, was mich zum menschen macht, ist so gross und kreativ, dass es meistens wie ein geschenk wirkt.
und wieder streune ich durch das nächtliche prag und wieder bin ich der einsame gast, der keinen körper hat.