10.1.15

der rote stern

die strasse ist dunkel. sehr dunkel. ein eisiger wind pfeift und fährt unter meinen ledermantel, der wind weht mir fast die zigarette aus der hand. ideale voraussetzungen für einen spaziergang durch die strassen von d.c. ich stapfe die strasse entlang und vermeide es, auf die eisigen stellen zu steigen. mein atem verweht, eine spur wärme, nur eine spur, dann nichts mehr.
ein japanisches restaurant, mit sternen im fenster. ich denke noch, wie seltsam. fast zu romantisch für ein japanisches restaurant. ich bleibe vor der auslage stehen, betrachte die sterne und bemerke, dass sie aus feinem papier gefaltet wurden. eine junge frau sitzt mit dem rücken zu mir auf dem boden im lokal. sie ist allein im raum, der einzige gast, aber wahrscheinlich handelt es sich um die besitzerin des ladens. um diese zeit und bei diesem wetter ist es kein wunder, dass niemand mehr unterwegs ist. das bild der frau im hellen licht wirkt seltsam beruhigend auf mich, heimelig, und wunderschön. wie sie so dasitzt, ihr gerader rücken, das lange, schwarze haar, das ihr über den rücken fällt. rund um sie verteilt liegen bögen aus papier. ich sehe erst jetzt, dass sie papier faltet. wahrscheinlich die sterne für die schaufenster-dekoration.
ich habe lust, ans fenster zu klopfen und sie auf mich aufmerksam zu machen.
in diesem augenblick dreht sie sich um und sieht mich durch die fensterscheibe an. ich winke, doch sie erwidert meinen gruss nicht. sie starrt ausdruckslos durch mich hindurch. in der hand hält sie einen grossen, roten stern.
sie ist blind.


ich fühle mich geborgen in ihrem blick. und sie scheint mich auf irgendeine art zu sehen. sie scheint mich zu spüren.
langsam streckt sie die hand aus und hält mir den stern entgegen.
ein teil von mir möchte in diesem moment nur rennen. weg von hier, zurück in die kalte, windige strasse und weiterlaufen, bis ich nicht mehr kann.
und doch möchte ich zu ihr.
ich will den stern.
mein entschluss ist schnell. spontan, wie alles in dieser nacht. ich werde das lokal betreten und dort der einzige gast sein. und ich möchte ihre geschichten hören, spüren, wie sie sich in meinen arm schmiegt wie eine katze.
ich kratze an der tür und sie erhebt sich mit einer geschmeidigen bewegung, um mir zu öffnen.
zwischen uns brennt der rote stern
sein feuer ist alles, was ich wollte, in dieser nacht.



☽☆ ☾



wie viel zeit vergangen ist, kann er nicht sagen. es ist angenehm warm, so angenehm, dass er immer wieder einnickt, dann kommen wieder wachzustände, unterbrochen von klarsichtigen momenten, abwechselnd, hin und herdriftend zwischen bewusstem erleben und unbewusstem handeln, am schluss nur noch das klare sehen nach innen, ohne die hoffnungslosigkeit des traumes. das einzig reale scheint der rote stern zu sein, den er vor sich auf dem tisch sieht, aber sogar der rote stern verändert seine konturen, wird ab und zu zu einer flamme, dann wieder zu einer blüte. und doch weiss er, dass die form und selbst die farbe des sternes vielschichtig ist, dass der stern selbst im grunde nur aus licht besteht
kann es sein, dass man verändert wird, wenn man ihn anfasst?
gibt es langzeitfolgen? fragt er spontan und findet sich selbst wieder mal unsagbar dämlich. wie könnte die frau auch wissen, was er mit langzeitfolgen meint. sie lächelt. es ist ja nur ein stern, sagt sie achselzuckend. gerade darum, antwortet er. was weiss man schon von ihm?
er hat dich aus der kälte gelockt, sagt sie. mit seiner macht hat er dich angezogen. und du weisst, was seine macht ist?
er erinnert sich. an alle tränen, die er immer vergossen hat, um den verstreuten sternenstaub, der sich in unzähligen menschen wiederfindet. wie oft er für sie gebetet hat, ihnen seine letzte kraft gegeben hat.


es war doch alles umsonst. sagt er bitter.
ist es umsonst, wenn ein stern leuchtet? fragt sie.
er sieht sie stumm an.