2.8.20

die stadt der diamanten

ganz unten im abgrund stiess ich auf eine eigenartige stadt. wie kann es sein, dass dort unten menschen leben, fragst du? wie kann es sein, dass überhaupt etwas dort unten überlebt?

zum tiefsten punkt des abgrunds lockte mich ein eigenartiges funkeln, unwirklich schön, wie ein traum, und ich dachte an eine fata morgana, eine illusion, die nur diejenigen erleben, wenn sie zu lange kein licht gesehen haben. ganz tief unten und auf den gipfeln der verzweiflung fand ich zur stadt der diamanten. es war, als ich am tiefsten punkt stand, ich war zum gellenden schrei geworden, ich selbst war der schrei, eine wunde, die sich nicht mehr schliessen konnte. man kommt zum sterben hierher. man kommt hierher, um an der verachtung der stadt zugrunde zu gehen. und doch habe ich es geschafft, wieder zu verschwinden, jemand zerrte mich die stufen hinauf, war es ein bewohner der stadt gewesen, der sich danach wieder hinter seiner maske der gleichgültigkeit, des spottes, versteckt hatte? war es einer gewesen, der trotz allem noch der stadt die stirn geboten hatte? gibt es dort unten noch menschen?

ich kann nur bruchstücke wiedergeben. das giftgas der schächte zerstört körper und geist, die erinnerung schwindet mit jeder minute. ich sitze an eine wand gelehnt und schliesse die augen.



die stadt hat keine geschichte. ich nenne sie die stadt der diamanten, doch sie hat keinen namen, zumindest keinen, der in der oberirdischen welt ein begriff ist. sie ist brandneu, erst vor einigen jahren aus dem nichts entstanden, es gibt kein richtiges leben, denn richtiges leben wächst langsam, hier wächst nichts langsam, hier wächst überhaupt nichts, die stadt steht still.
das einzige, was leben ausstrahlt, sind relikte aus uralten zeiten, die man anhäuft, um nicht zu vergessen, wie man hier so schön, so schön gelogen, zu sagen pflegt. denn wie könnte man sich an etwas erinnern, das man nie erlebt hat? es sind gestohlene erinnerungen, wie amputierte gliedmassen, die keine funktion mehr erfüllen. da liegen sie in museen, kunstvoll beleuchtet, schweigend betrachtet, kühl analysiert, in den verschwiegenen vitrinen der stadt.
amputierte gliedmassen, ästhetisch für die stadt aufbereitet, in prachtvollem rahmen präsentiert,
vielleicht ein wenig zu prachtvoll, die dinge sehen fast zu klein aus,
enttäuschend, denken vielleicht einige mit mühsam beherrschtem spott
sie waren doch sehr simpel damals
aber alles ist besser als nichts
wie man hier gemeinhin zu sagen pflegt.
es ist eine seltsame stadt, eine stadt der sammler, eine stadt der ästheten, und dennoch ist die stadt selbst nicht ästhetisch, genauso wenig wie ihre bewohner. auf den ersten blick vielleicht, extrem ästhetisch sogar, stilbewusst, beherrscht und niemals zu erschüttern, weder die stadt noch ihre bewohner, in unangreifbarer ruhe und gelassenheit, die dem überreichtum  zu eigen ist, perfekt ausbalanciert, perfekt beherrscht, perfekt aussehend, perfekt ewigjugendlich, perfekt elegant. kein stilbruch, kein bruch, kein ausbruch, und intellektuell gepanzert, kalte harte diamanten
die stadt der diamanten
die schönste stadt der welt, finden die träumer, und in ihren träumen beschliessen sie, diese stadt irgendwann zu besuchen, genauso, als würden moslems von einer pilgerfahrt nach mekka träumen, fast religiös ist  ihr sehnen nach dieser stadt, wo der reichtum durch wände und fenster flirrt und jedem anwesenden die aura von unnahbarer heiligkeit verleiht, wo die skalpelle der chirurgen heiligengeschichter aus fleisch schnitzen und im wunderbarsten schmerz verklärte gesichter schaffen, denen das flair eines in religiöser ekstase erzeugten dauerorgasmus anhaftet.
die stadt der heiligen schönheit

nur einige sehen ihre wahre gestalt und zu diesen wenigen gehöre auch ich. und als ich die altäre floh, die heiligkeit der stadt anzweifelte, sah ich ihr dämonengesicht und ich rannte durch ihre strassen bis zur völligen erschöpfung, um den ausgang zu finden. ich rannte, bis ich ohnmächtig zusammenbrach.
aufgewacht bin ich hier, bzw. einige etagen weiter unten. ich habe mich nach oben geschleppt, bis ich wieder atmen konnte.
was das wirklich schlimme daran ist: die stadt kennt meinen namen. weisst du noch, was wir am anfang sagten? man blutet dort unten. die schächte trinken dein blut und lernen deinen namen auswendig. seit ich die stadt gesehen habe, habe ich angst, in einen schacht zu fallen, ohne die möglichkeit, wieder herauszuklettern. seit ich die stadt kenne, habe ich angst.