25.9.18

gefässe ohne inhalt


es gab doch tatsächlich zeiten, die es im grunde gar nicht gab. zeiten ohne irgendeine nennenswerte beschäftigung, zeiten, die vergangen wie etwas vergeht, das hohl und nichtssagend und ohne inhalt ist, und sie war das gefäss, das diese nichtssagende und hohle leere enthielt, von zeit zu zeit. ein gefäss, das nichts enthält, ist wohl eine paradoxe angelegenheit. es steht herum und ist einfach nur da, doch der eigentliche zweck des gefässes wird nicht erfüllt. und so misst man das gefäss dann an seinem aussehen. denn es ist ja leer, der eigentliche sinn des gefässes, das beinhalten, wird nicht erfüllt. so kam es dann, dass man gefässe nach ihrem aussehen beurteilte. entspricht es der allgemein akzeptierten norm der ästhetik? geht es sogar darüber hinaus? oder ist es auch äusserlich nichtssagend und öde? dann muss das gefäss ganz weit weg gestellt werden, am besten gleich weggeworfen. es beleidigt das auge. und sinn hat es noch dazu keinen.

und so kam es dann also, dass menschen einander nur noch nach ihrer äusserlichen form zu beurteilen begannen. manche fragen sich noch immer, wie es dazu kam. sie verstehen nicht, dass der sinnn eines gefässes das bergen von inhalt ist. sobald das gefäss diese bedingung nicht mehr erfüllt, gelten andere masstäbe.


jeder für sich, und doch für alle. es ist ganz einfach. man fülle das gefäss bis zum rand und man soll nicht ruhen noch rasten, bis wirklich das ganze gefäss gefüllt ist. man soll suchen und vielleicht sogar unter schmerzen suchen – zu viel leere ringsumher – eine suche wird unter garantie nicht einfach und der suchende wird phasen des schmerzes und der schwäche erleben. dann einmal, ganz plötzlich, wird man eine veränderung bei sich wahrnehmen, die ungeheuer gross ist. man sieht ganz urplötzlich in andere hinein und man sucht nach dem sinn dieses gefässes, man sucht den inhalt und das optische tritt zurück, denn es ist nicht mehr das hauptkriterium beim beurteilen von anderen. und so kommt es dann, dass menschen die grösste evolution selbst erzeugen, eine evolution, die nur dem menschen selbst möglich ist, kein tier gleicht ihm jetzt noch. er sieht an verzierungen und farben und ornamenten vorbei, er beachtet sie nicht. er sieht etwas, das besser ist. wahrscheinlich wird er dann von sich behaupten, dass er gerade glücklich ist und worte werden fallen, die er zuletzt als kind verwendet hat. worte, die ihm endlich wieder gerecht werden, nach denen er gesucht hat, die ganze zeit lang.

ich breche eine lanze für den menschen. er ist tatsächlich schön. wenn er sich selbst eine chance gibt und seine schönheit nicht hinter falschem tand versteckt.


ich sehe meine grossmutter, sie ist 94 jahre alt. manchmal, wenn wir ins gespräch vertieft sind, geschieht etwas, das so wunderbar ist. sie ist eine alte frau und dennoch wieder nicht. denn sie spricht davon, wie es ist, die nase in den frühlingswind zu recken und zu schnuppern und von den ersten veilchen, die unter den hecken geblüht haben und die sie mit ihren freundinnen gepflückt hat. und plötzlich ist er da, der wind, der vom rhein her weht. ich sehe den grossen, breiten fluss und meine grossmutter als junges mädchen, ich sehe, dass die müdigkeit ihren blick völlig verlässt, und sie nimmt mich mit, ich bin wahrhaftig dort mit ihr, ich bin ein spiegel und mehr noch, ein anderes gefäss, das diesen inhalt in sich aufnimmt und birgt. wer könnte wirklich behaupten, dass andere kriterien als diese gelten sollen? wer misst diesen menschen an seinem alter, an den falten, die er im gesicht trägt? wer versteigt sich dazu, zu behaupten, ein alter mensch hätte seine schönheit verloren? weil seine haut gealtert ist? weil sein körper der natur unterworfen ist? ein teil hingegen ist nicht der natur unterworfen. das, was den menschen erst zum menschen macht. genau dorthin führt mich meine suche. es ist ein weg voller mühsal und doch, wie reich wird man beschenkt. den menschen, sich selbst eingeschlossen, nicht als parasiten oder krebsgeschwür zu sehen, ist ein teil davon.